Angeklopft bei Nelio Biedermann

Lange bevor es am ersten September diesen Jahres in den Regalen der Buchhandlungen stand, sprach die Literaturwelt bereits über ein Buch, dessen Cover ein weißes Pferd und einen neongelben Schriftzug zeigt. Der Titel: Lázár. Der Schweizer Autor, Nelio Biedermann, wird als neues literarisches Wunderkind betitelt und seine Geschichte mit der klassischen Familiensaga Buddenbrooks verglichen. Was hat ihn am meisten überrascht, als er seine eigene Familiengeschichte geschrieben hat? Und was hat sich seit dem Erscheinen für ihn verändert? Ein Interview.

Seit dem Erscheinen von Lázár hat sich für dich sicherlich vieles verändert. Man könnte auch von einem Davor und einem Danach sprechen. Welchen Teil im neuen, jetzigen Lebensabschnitt magst du, welchen nicht?

Nelio: Ich hatte große Angst, dass sich durch die Veröffentlichung viel verändern wird. Bevor das Buch erschienen ist, habe ich im Sommer mit der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung gesprochen und dann dachte ich, dass mein Leben ab jetzt wahrscheinlich anders werden wird. Zum Glück konnte ich aber ganz viel beibehalten, denn sehr vieles hat sich gar nicht verändert. Was ich aber vermisse aus der Zeit davor ist tatsächlich Zeit, denn jetzt ist vieles mit Stress und Arbeit verbunden. Es gibt die Arbeit des Schreibens, dann ist das Buch draußen – und danach gibt es die Arbeit, die unabhängig vom Schreiben stattfindet, wie das viele Unterwegssein. In der Zeit davor, also bevor das Buch erschienen ist, gab es bei mir eine gewisse Unsicherheit, die, zumindest mit diesem Buch verbunden, jetzt erstmal weg ist. In den Wochen vor dem Erscheinen war ich unglaublich nervös und aufgekratzt, da ich noch nicht wusste, wie die Geschichte ankommen wird. Jetzt, danach, habe ich mehr Selbstvertrauen, und kann besser für mich einstehen.

In den bisherigen Artikeln in den Medien fällt auf, dass im Zusammenhang mit dem Erfolg deines Buches recht schnell auf dein junges Alter hingewiesen wird. Wie fühlt sich das für dich an?

Nelio: Es kommt darauf an, wie man es sagt. Es stört mich generell nicht, da ich es bei mir selber ebenfalls beobachte. Ich finde es besonders spannend, wenn Musiker oder Sportler extrem jung sind. Was mich aber stört, ist, wenn ich auf mein Alter reduziert werde, weil man es bei einem Fußballer auch nicht machen würde – der muss in erster Linie gut Fußball spielen. Wenn es aber als «Add-on» gesagt wird, finde ich es schön.

Löst das ständige Erwähnen Druck in dir aus?

Nelio: Ich verspüre keinen hohen Druck – jetzt zumindest nicht mehr. Ich versuche, mir auch immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass es einfach Dinge sind, die ich gar nicht kontrollieren kann und die relativ unabhängig von mir geschehen. Wenn ich etwas Neues schreibe, dann ist das erstmal das Folgebuch von Lázár – und mein drittes Buch, obwohl es für die Öffentlichkeit mein zweites ist. Und dieses Folgebuch wird an unheimlich hohe Erwartungen geknüpft sein. Da spielt es gar keine Rolle mehr, was ich schreibe oder wie das ist, weil es immer im Zusammenhang damit betrachtet werden wird. Das kann ich nicht steuern, das nimmt mir wiederum aber auch den Druck. Ich versuche einfach, möglichst gut zu schreiben und genau das zu schreiben, was mir wichtig ist. Und was die Leute dann am Ende des Tages damit machen, kann ich sowieso nicht kontrollieren.

Glaubst du, dass dein Buch auch so erfolgreich gewesen wäre, wenn du es 10 Jahre später geschrieben hättest?

Nelio: Man gilt, glaube ich, ziemlich lange als junger Autor. Wenn ich 10 Jahre älter gewesen wäre, hätte ich es aber sicher anders geschrieben. Und dann wäre die ganze Dynamik eine andere. Und in 10 Jahren hätte ich es hoffentlich besser geschrieben, als ich es jetzt geschrieben habe.



»Ich wusste plötzlich, ich kann etwas schreiben, und das wird gelesen.«



Was hast du im Vergleich zu deinem ersten Roman Anton will bleiben anders gemacht?

Nelio: Ich lese aktuell Anton will bleiben nochmal, da es bei Rowohlt als Taschenbuch erscheinen wird. Ich dachte zunächst, es wird schlimm werden, aber ich kann tatsächlich mit dem Meisten noch gut leben. Im Gegensatz zu diesem ersten Buch hatte ich bei Lázár schon mehr Vertrauen in mich selber – ich war mutiger und habe mehr ausprobiert, vor allem sprachlich. Zum Beispiel der Ton, der sich im Laufe der Geschichte immer wieder ändert, lyrische Passagen und dann sehr verknappte Passagen und Leerstellen. Das waren alles Dinge, die ich bei Anton will bleiben noch nicht konnte, oder die ich mich damals noch nicht getraut habe, auszuprobieren. Ich habe allerdings schon eine Verantwortung gespürt, die Geschichte möglichst gut zu erzählen. Dass ich bei Lázár mehr Sicherheit hatte, ist daraus entstanden, dass das, was ich geschrieben habe, gut genug ist, um verlegt zu werden. Ich wusste plötzlich, ich kann etwas schreiben, und das wird gelesen. Früher dachte ich, ich komme nicht über die Kurzgeschichte hinaus, aber jetzt hatte ich mehr Selbstvertrauen und sehe, dass ich auch ein ganzes Buch schreiben kann.



»Denn beim Schreiben geht es letzten Endes darum, dass man durch das Geschriebene Dinge an mir erkennt, die man von außen nicht sieht.«



Du hattest in einem ZEIT-Podcast gesagt, dass du gesehen werden willst. Was steckt dahinter?

Nelio: Ich glaube, ich muss es noch spezifizieren, denn das Gesehen werden, verstehe ich als erkannt werden. Es klingt so, als wäre ich darauf versessen, berühmt zu sein oder auf der Straße erkannt zu werden – das ist es nicht. Es geht vielmehr darum, dass ich, so wie ich bin, gesehen werde. Das ist daraus entstanden, dass ich lange nicht das Gefühl hatte, dass dem so ist. Ich denke, alle Schreibende wollen sich ausdrücken. Das hat erstmal etwas sehr Unbeholfenes, dass man sich im echten Leben scheinbar nicht direkt so ausdrücken kann – da greift man auf das Schreiben zurück. Denn beim Schreiben geht es letzten Endes darum, dass man durch das Geschriebene Dinge an mir erkennt, die man von außen nicht sieht.

Was hat dich bei der eigenen Familiengeschichte am meisten überrascht?

Nelio: Mir war das Ausmaß nicht bewusst – von eigentlich allem, vor allem aber vom Reichtum. Ich hatte nicht verstanden, wie wohlhabend die Familie war, weil davon nichts mehr übrig ist. Ich wusste natürlich, dass es Reichtum gab, und, dass sie in Schlössern gelebt haben, dass sie aber zu den reichsten Familien der ungarischen Monarchie gehört haben, war mir in dieser Dimension nicht bewusst.

Es gibt so einige großartige erste Sätze. Ich habe gleich einen ersten Satz von Simon Becketts Chemie des Todes im Kopf »Ein menschlicher Körper beginnt fünf Minuten nach dem Tod zu verwesen«, oder aus Über das Schreiben von Sol Stein »Ich hätte Mutter am liebsten erwürgt, aber dafür hätte ich sie anfassen müssen«.

Nelio: Es sind mehrere erste Sätze, die ich großartig finde. Bei Der Fremde von Albert Camus gibt es den ersten Satz: »Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern. Ich weiß es nicht.« Das finde ich großartig. Man muss aber sagen, dass diese Version von Lázár, die jetzt in den Läden liegt, der fünfte Versuch ist. Erst bei diesem fünften Versuch entstand der finale erste Satz. Davor waren die ersten Sätze immer andere, aber als ich diesen Satz dann hatte, wusste ich, es funktioniert.

»Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den es bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.« Welche ersten Sätze haben dich zu deinem ersten Satz inspiriert?

Nelio: Das war der erste Satz von 100 Jahre Einsamkeit: »Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenem fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis zu entdecken«. Bevor ich das letzte Mal begonnen hatte, Lázár zu schreiben, habe ich das Buch gelesen, da es da auch über die verschiedenen Generationen dieser einen Familie geht. Das Buch hat mir gar nicht so sehr gefallen, aber der erste Satz ist unfassbar gut.

Um beim Schreiben zu bleiben: Du schreibst von Pista, der das Dunkle liebt. Oder von Lajos mit den wasserblauen Augen. Welche Eigenschaft würdest du einer Figur wie Nelio Biedermann zuschreiben?

Nelio: Ich habe zwar kein Schlagwort, aber etwas, das mich sehr auszeichnet, ist, dass Beobachtende und, dass ich sehr aufmerksam bin. Vielleicht ist Imre deswegen auch meine Lieblingsfigur in der Geschichte. Das hat verschiedene Gründe, aber einer davon ist sicher auch, dass er eine erzählende Rolle einnimmt, ohne wirklich zu erzählen. Gleichzeitig überdauert er fast alle Figuren und hat deshalb diese Perspektive auf das, was geschah, denn ein gleichzeitiges Erzählen geht nicht, erzählen ist immer rückwärtsgewandt. Imre steht als Beobachtender immer ein wenig am Rande der Geschichte und kann genau deshalb darüber erzählen. Ich glaube, das ist etwas, was mich als Figur auszeichnen würde: das Beobachtende.

Du hast mit Imre eine Figur erschaffen, die nicht nur vieles überdauert, sondern auch die gesamte Zeit über die Familie zu schweben scheint und einem nach dem Lesen immer noch verfolgt.

Mir war bei Imre wichtig, dass man nicht einfach sagen kann, dass er nicht ganz richtig im Kopf sei, denn für mich hat Imre schon fast etwas Prophezeiendes. Er hat mich – auch während des Schreibens – ein bisschen an die Orakel von Delphi erinnert, die in dieser Awareness Dinge sagen konnten, die über das normale Verstehen hinausgehen.

Ich glaube, das würde viele interessieren: Deine Schreibroutine, wie sieht die aus?

Nelio: Das interessiert mich bei anderen auch immer am meisten. Das frage ich alle, die ich kennenlerne. Ich habe nicht wirklich eine Schreibroutine – zumindest nicht so eine strukturierte wie zum Beispiel Thomas Mann sie hatte. Ich versuche, jeden Tag zu schreiben. Das kann aber manchmal nur ganz wenig sein – im besten Falle ist es mehr. Ich glaube, das ist meine Routine: Jeden Tag mich hinzusetzen und am Text zu arbeiten. Das ist selber aber frei von jeder Struktur. Ich möchte mir auch keine Struktur zulegen, da das immer einengend wäre. Ich kann überall schreiben, ich schreibe von Hand und brauche sonst auch nichts – nur Stift und Papier. Ich schreibe manchmal morgens, manchmal nachmittags, manchmal abends und versuche da, frei zu sein. Es gibt sehr viele Künstler, die Rituale haben. Wenn man die aber, aus irgendwelchen Gründen, nicht aufrechterhalten kann, ist man schnell aufgeschmissen.

Ist das Schreiben oder das Erzählen dringlicher für dich?

Nelio: Ich weiß nicht, ob das Erzählen dringlich ist, oder nicht eher das Schreiben. Wenn ich etwas zu Ende geschrieben habe, dann will ich unbedingt etwas Neues schreiben, aber mir fehlt dann der Stoff. Da ist dann das Schreiben dringlich, das Erzählen nicht, denn ich habe in dem Moment gar nichts zu erzählen. Es fühlt sich falsch an, wenn ich an gar nichts arbeite, das merke ich daran, dass ich angespannt bin und unbedingt irgendetwas haben will, damit ich weiterschreiben kann. Ich glaube also eher, das Schreiben ist dringlich, weniger das Erzählen.



»Das war eine wichtige Erkenntnis, dass der Erfolg und alles, was dazugehört, zwar sehr schön ist, aber es mir letzten Endes um den Text geht. Ich schreibe lieber, als aufzutreten und ich sitze lieber am Schreibtisch, als vor Menschen zu lesen.



Du hast mit deinem zweiten Roman etwas geschafft, wovon viele träumen. Was macht jemand wie du als Nächstes?

Nelio: Die Ziele höherstecken. (lacht) Es stimmt, dass ich jetzt viele Ziele erreicht habe, die ich mir für die nächsten 10 bis 20 Jahre vorgenommen hatte. Gleichzeitig bin ich aber nicht der Meinung, dass dort kein Verbesserungspotenzial mehr ist. Ich glaube auch nicht, dass ich alles auserzählt habe. Was falsch wäre, ist, diesen Erfolg zu reproduzieren, eine Fortsetzung zu schreiben, oder einen anderen Familienroman in einem anderen Setting. Das funktioniert vielleicht noch ein einziges Mal – danach wird es immer schlechter. Jedes Mal, wenn ich etwas zu Ende geschrieben habe, bekomme ich sehr große Lust, etwas anderes zu schreiben – etwas Neues. Das war eine wichtige Erkenntnis, dass der Erfolg und alles, was dazugehört, zwar sehr schön ist, aber es mir letzten Endes um den Text geht. Ich schreibe lieber als aufzutreten, und ich sitze lieber am Schreibtisch, als vor Menschen zu lesen. Letzteres ist zwar auch sehr schön, aber das fühlt sich nach Arbeit an – das Schreiben nie.

Letzte Frage: Mit welchen drei Menschen, egal ob tot oder lebendig, würdest du gerne essen gehen?

Nelio: Drei sind viel zu wenig! Muss es denn jemand sein, mit dem ich gerne essen gehen würde, oder muss es einfach spannend sein?

Das kannst du dir aussuchen.

Nelio: Meine Antwort ändert sich vermutlich fast stündlich, aber ich fände Jesus spannend (lacht). Außerdem Goethe und die Autorin von Frankenstein Mary Shelley – die hat, glaube ich, viel Spannendes erlebt. Jetzt gerade habe ich aber noch an die spanische Sängerin Rosalía gedacht.

Vielen Dank für das Gespräch, Nelio Biedermann!

Weiter
Weiter

Ein wenig Heimat